Trans*-Gefühle im Mittelalter?
Ich würde gerne diesen relativ blanken Titel wählen, weil es mir drum geht, dass das Projekt möglichst gut bei Internetrecherchen auffindbar ist. Daher ist er zwar weniger expressiv, spricht aber hoffentlich eine breite Auswahl an Interessierten (und deren Suchanfragen) an. Das Projekt selbst soll ein Gedicht aus der Provence des Hochmittelalters zwischen dem 13. Und 14. Jahrhundert erschließen, dass einer Umgebung jüdisch-rabbinischer Gelehrsamkeit entstammt. Es entspringt dem Even Bohan, einer Gedichte- bzw. Gebetsammlung des Autors Kalonymus ben Kalonymus. Der Text ist klassischer Weise als eine Satire auf die Erwartungen, die auf jüdischen Jungen der Oberschicht abgeladen wurden, verstanden worden. Er enthält allerdings eine Reihe von Äußerungen, die bemerkenswert nah an moderneren Beschreibungen von Dysphorie kommen. Diese Nähe zum moderennen Erleben von Transidentität ist meines Erachtens nach so groß, dass es sich lohnt diesen Teil des Even Bohan transgeschichtlich zu erschließen, vor allem, weil was auch immer darin ausgesagt wird, authentische Ausgerungen von Kalonymus ben Kalonymus darstellen. Es stellt also eine bei älteren Texten sehr seltene Möglichkeit dar, sich mit einer Darstellung auseinanderzusetzen, die von einer potentiellen Transperson verfasst worden ist und nicht bloß über sie.
Projektplan
Mein Ziel ist es eine Website zu erstellen, die potentiell interessierten Personen ermöglicht das Gedicht kennenzulernen und sich in Hinblick auf Transidentität in der Geschichte eine eigene Meinung dazu zu bilden. Ich möchte mich dabei an möglichen queeren Besuchern der Website orientieren, aber für alle anderen ausdrücklich offen und zugänglich bleiben. Letzteres möchte ich als Teil eines Kontext Teils der Seite umsetzen, der zu verschiedenen geschichtswissenschaftlichen aber auch queeren Themen kurze wissenschaftliche Erklärungen liefert, die dem Besucher ermöglichen dem Text entsprechend ihres eigenen Wissensstandes zu begegnen, gleichzeitig aber nicht von einer Erklärung zu bereits bekannten Konzepten behelligt oder in der Deutung eingeschränkt zu werden, gerade weil queere Besucher das Gefühl haben sollen, dass die Website ein Ort ist, der ihren Bedürfnissen genügt. Das ist mir wichtig, weil ich denke, dass das Gefühl sich an einem Ort zu befinden der mit Queerness vertraut ist, wichtig dafür ist sich offen mit einem kontrovers diskutierten Thema wie vormoderner Transness auseinanderzusetzen, weil dann nicht eine mehr oder minder unterbewusste Sorge darum aufkommt, sich gegen mögliche Queer-Erasure wehren zu müssen, bevor man dem eigentlichen Inhalt überhaupt begegnen kann.
Methodische und theoretische Ansätze
Ansonsten soll die Website erst einmal den Text zugänglich machen. Es gibt zwei gute Übersetzungen, die aber beide in englischer Sprache verfasst sind. Daher würde ich selbst eine deutsche Übersetzung erarbeiten. Es gibt zwar eine sehr alte, die aber weniger darauf bedacht ist Queerness sichtbar zu machen als die englischen Texte mit denen ich arbeiten würde und außerdem aufgrund ihres Alters sprachlich nicht notwendigerweise zugänglicher ist. Idealerweise möchte ich sie aber zur optional zur Verfügung stellen. Das ich den Text ins Deutsche übertragen möchte, hat den Hintergrund, dass es m.M.n. gerade für die Interaktion mit Poesie oft hilfreich sein kann auf die Muttersprache zurückgreifen zu können. Dabei möchte ich offen kommunizieren, dass ich keine professionelle oder mediävistisch ausgebildete Übersetzerin bin. Außerdem möchte ich optional auch die englische Ausgabe und den mittelalterlichen Originaltext zur Verfügung stellen, wieder in einem weiterführenden Teil der Website. Dafür würde ich die queeroffene jüdische Institution Open Siddur anfragen (bosher habe ich nur dort auch ein Bild des originalen hebräischen Textes gefunden), bei denen ich beide als Online Veröffentlichung aufgefunden habe. Darüber hinaus gibt es auch eine akademische Übersetzung von Tova Rosen aus seinem Werk Unveiling Eve, auf die ich auf jeden Fall verweisen möchte. Ideal wäre natürlich diese Übersetzung ebenso zur Verfügung zu stellen, ich müsste aber dafür in Erfahrung bringen, inwiefern dass Copyright technisch funktionieren kann, bzw. ob dabei nur der Forscher, den zu kontaktieren ja kein Problem wäre, oder auch der Verlag eine Rolle spielen.
Es ist mir wichtig, dass ein Besucher der Seite als erstes auf den Text allein trifft. Einerseits denken ich, dass man das Publikum der Seite so am ehesten respektiert, indem dieses die Möglichkeit erhält sich von seiner eigenen Warte aus eine Meinung zum Text zu bilden. Zweitens bin ich der Auffassung, dass die überraschend große Nähe zu moderner Transness, die der Text überliefert, für sich selbst spricht, und im Publikum allein dadurch, unerwarteter Weise mit deren Existenz konfrontiert zu werden, eine fruchtbare Reflektion über die Möglichkeit von Transness im Mittelalter in Gang zu setzen, An der Seite des Texts will ich, wie oben erwähnt, optional kurz wissenschaftlichen Kontext zu mediävistischen ,judaistischen und queeren Fragen anbieten. Als noch wichtigeren zweiten Schritt für die Website möchte ich aber dem Publikum im Anschluss an die Lektüre die wissenschaftlichen Interpretationen des Gedichts vorstellen. Dabei möchte ich besonders auf die ältere Forschungsmeinung aus der älteren Übersetzung, die noch ohne Querness auskommt, Rosens Deutung die sich stärker mit Homosexualität befasst, die Deutung durch moderne jüdische Gruppen (also u.A. Open Siddur) einbinden. Die explizite trans* Lesung die ich anbieten möchte, würde ich dann auf theoretische Texte der Transgeschichte stützen, einerseits auf Transing, aber auch auf Ansätze die direkter von Transness in der Geschichte ausgehen (wie bei Jasperson zu finden, wie ich sie verstanden habe, bzw. generelle indigenen Arbeiten oder Stryker, ich müsste dazu mehr aus dieser Richtung lesen).
Reflektion
Ich würde die jeweiligen Auffassungen so zusammenfassen, dass hoffentlich ihre argumentativen Stärken zu Tage treten, wieder mit der Absicht eine eigene Meinungsbildung von Seiten der Besucher zu ermöglichen. Ich möchte damit idealerweise einen Rahmen schaffen in dem Personen, die an Transness im Mittelalter, die m.E.n. nicht einfach nachzuweisen ist, interessiert sind, selber historisch tätig werden können. Ich möchte dazu einladen einer fruchtbaren Quelle zu begegnen, und dann allgemeinverständliche erklärte Interpretationen gegeneinander abzuwägen oder zusammenzuführen. Ich habe selber oft nach gut zugänglichen, wissenschaftlich fundierten Quellen zu historischer Transness gesucht, die einem ermöglichen sich selbst mit den Quellen oder dem Stand der Wissenschaft auseinanderzusetzen, aber ebenso oft wenig bis Garnichts gefunden. Ich denke, dass so ein Ansatz auch erfolgreicher darin sein kann, gerade kritische Menschen zu überzeugen, als sie nur von einem Forschungsergebnis zu unterrichten. Bei ihm besteht das Potential, dass sich ein kritisches Publikum mit der historischen Existenz von Transmenschen auseinandersetzt, wenn es nämlich aus ihrer eigenen Einsicht auf solche Gedanken gestoßen wird. Gerade bei mittelalter und Antike ist die Dichte an öffentlich zugänglichen Informationen, die gleichzeitig nachvollziehbar fundiert sind, sehr gering, weshalb ich dazu betragen will, diese Epochen eher transgeschichtlich zu erschließen.
Zeitlicher Plan
Was die Umsetzung angeht würde ich zuerst die Übersetzung und die akademischen Inhalte, sowohl Kontext als auch die Vorstellungen der Interpretationen, erarbeiten. Dafür würde ich in etwa die Länge einer Hausarbeit veranschlagen, also 4-6 Wochen, es sollte auf jeden Fall nicht mehr Text oder Literatur dabei anfallen und Art sowie Umfang der Tätigkeit sind vergleichbar. Schwieriger wird es beim Aufbau der Website, weil mir das informatische Wissen fehlt eine solche zu programmieren. Ich habe aber Info-Freunde an der Uni sowie darüber auch Kontakte zue Spline, einem Info Space an der Uni, bei denen ich mir Hilfe holen würde. Ansonsten müsste ich auf Werkzeuge für das Einrichten von Websiten zurückgreifen. Wie viel Zeit beide Optionen in Anspruch nehmen würde, kann ich allerdings noch nicht absehen. Besonders wünschenswert für das Projekt und die Darstellung einer jüdischer Perspektive wäre eine Zusammenarbeit mit Leuten aus der Judaistik an der FU, die ich auf jeden Fall erfragen würde, allerdings müsste ich dazu in Erfahrung bringen, wie viel Interesse sowie Wissen zu meinem Thema dort überhaupt vorhanden sind.
Quelle
- Kalonymos Ben Kalonymos, Der Prüfstein, hrsg. u. übers. v. Wolf A. Meisel, Budapest 1878.
- Chotzner, Joseph, Kalonymos Ben Kalonymos. A Thirteenth-Century Satirist, in: The Jewish Quarterly Review 13. 1900 H. 1, S. 128-146.
Literatur
- Greenberg, Steven, Wrestling with God and Men. Homosexuality in the Jewish Tradition, Madison 2004.
- Klein, Richard, The Rock of Arles, Durham 2024.
- Michaels, Marc, “And he Gives her a Bill of Divorcement”, in: The Review of Rabbinic Judaism: Ancient, Medieval and Modern 27. 2024 H. 2, S. 155-178.
- Ramer, Andrew u. a., Queering the Text. Biblical, Medieval and Modern Jewish Stories, Eugene 2020.
- Rosen, Tova, Reading Gender in Medieval Jewish Literature, Philadelphia 2011.
- Strassfeld, Max K., Trans Talmud. Androgynes and Eunuchs in Rabbinic Literature, Berkeley 2022.
- Stryker, Susan, Transgender History, Berkeley 2008.
- Weiman-Kelman, Zohar, Transing back the Texts. Queering Jewish Prayer, in: Journal of Feminist Studies in Religion 34. 2018 H. 1, S. 80-84.